Wie im Bundestag Sachverständige um Gehör kämpfen

Blick in eine Sitzung mit Sachverständigen des Bundesrats
Bevor der Bundestag ein neues Gesetz beschließt, werden Sachverständige um ihre Meinung gefragt. Foto: Heinz Stüwe

Bevor der Bundestag ein neues Gesetz beschließt, werden Sachverständige um ihre Meinung gefragt. Denn Politiker sind im Idealfall klug und gut informiert, können aber nicht alles wissen. Im Rahmen der Beratung eines Gesetzes lädt der zuständige Fachausschuss des Bundestags daher Sachverständige und Verbandsvertreter ein. Wie läuft so eine Anhörung ab? Zum Beispiel bei dem Gesetz, das den Anstieg der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bremsen soll.

Nach Jahren, in denen wechselnde Regierungen die Leistungen der Krankenkassen verbessert und ihnen zusätzliche Ausgaben aufgebürdet haben und nach drei Jahren Corona-Pandemie hat sich ein großes Finanzloch aufgetan:  Um es zu schließen, müsste der Zusatzbeitrag der Versicherten von derzeit 1,3 Prozent im Schnitt um einen Prozentpunkt steigen. Das wäre nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und der Ampelkoalition zu viel. Eine Steigerung um 0,3 Prozentpunkte halten sie für zumutbar. Um den Anstieg des Beitragssatzes so zu begrenzen, haben die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP den Entwurf für ein „GKV-Finanzstabilisierungsgesetz“ vorgelegt, ausgearbeitet von Lauterbachs Experten im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Lauterbach will dabei das Kunststück fertigbringen, keine Leistungen für die Versicherten zu verschlechtern, sondern Ärzte, Zahnärzte, Pharmaindustrie, die Krankenhäuser und die Krankenkassen gleichermaßen „bluten“ lassen, durch verordneten Verzicht auf Einnahmenzuwächse, Preisabschläge und die Senkung der Verwaltungskosten. Und auch der Finanzminister hilft mit einem um zwei auf 16,5 Milliarden Euro erhöhten Bundeszuschuss.

Anhörungen im Bundestag mit Sachverständigen sind öffentlich

Das Gesetz bringt somit für die sogenannten Leistungserbringer wenig Erfreuliches. Mithin konnten die Gesundheitspolitiker von SPD, Grünen und FDP sich auf einiges gefasst machen, als wenige Tage nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfs im Plenum des Bundestags die öffentliche Anhörung von Sachverständigen und Verbandsvertretern anstand. Nicht weniger als 44 Verbände und Organisationen sowie drei Einzelsachverständige wurden auf Wunsch der Fraktionen eingeladen. Nur fünf Personen waren dann aber in den Sitzungssaal E 300 des Paul-Löbe-Hauses gekommen, um den Abgeordneten gegenüberzusitzen. Die anderen ließen sich per Videokonferenz zuschalten. Zu sehen waren sie auf dem Videowürfel in der Saalmitte nur einzeln, und nur dann, wenn sie etwas gefragt wurden. Ein überschaubarer Kreis mithin.

Als Kirsten Kappert-Gonther, stellvertretende Ausschussvorsitzende und Sitzungsleiterin von den Grünen, dann unter den Sachverständigen die „liebe Carola“ herzlich begrüßte, verstärkte sich der Eindruck eines gesundheitspolitischen Familientreffens. Carola Reimann, war als SPD-Abgeordnete selbst Vorsitzende dieses Bundestagsausschusses gewesen, bevor sie Gesundheitsministerin in Niedersachsen wurde. Heute steht sie an der Spitze des AOK-Bundesverbands.

Politiker fragen, Sachverständige antworten

Kappert-Gonther erläuterte die Regularien einer öffentlichen Anhörung, die im Parlamentsfernsehen unter bundestag.de live übertragen wurde. Die Aufzeichnung ist abrufbar, das stenografische Protokoll ist im Internet veröffentlicht. Auch wenn das damit verbundene Echo in der Öffentlichkeit begrenzt sein dürfte, werden die Fragen sorgfältig vorbereitet und ausformuliert. Die Fraktionen achten darauf, möglichst solche Fragen an die Sachverständigen zu stellen, bei denen die Antworten mutmaßlich die eigene Position untermauern. Deshalb hat jede Fraktion ihre Lieblingssachverständigen. Die SPD-Abgeordneten richteten beispielsweise als einzige Fragen an den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und Verdi.

Welche Haltung sie zum Gesetzentwurf einnehmen, war bei den allermeisten Verbänden und Organisationen schon vor der Anhörung bekannt und dokumentiert. Zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz wurden dem Ausschuss 34 schriftliche Stellungnahmen eingereicht. Da liegt die Versuchung nahe, dass Abgeordnete sich für ihre Fragen Punkte heraussuchen, bei denen die Antwort in eine Bestätigung oder gar ein Lob mündet. Tino Sorge, dem gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, ist das gelungen. Da die Kliniken aufgrund der Inflation sechs Milliarden Euro Kostensteigerungen beklagen, fragte Sorge den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß; ob er einen Aufschlag auf die Klinikrechnungen befürworte, wie ihn die Union fordert. „Sehr begrüßen“ würde er diesen Vorschlag der Union, antwortete Gaß erwartungsgemäß. Allerdings sei das angedachte Volumen nicht ausreichend.

Abgeordnete im Bundestag und ihre Lieblingsthemen

Wie abgesprochen wirkte es, als die CSU-Politikerin Emmi Zeulner der Vertreterin des Deutschen Hebammenverbandes per Frage das Stichwort für eine Stellungnahme lieferte. Hebammen auf den Wochenstationen der Krankenhäuser würden nicht mehr auf den Personalschlüssel der Kliniken angerechnet. Das gefährde nicht nur die Versorgung von Mutter und Kind, sondern auch die künftige Hebammenausbildung.

Neben den Lieblingssachverständigen gibt es auch Lieblingsfragen. So fragte Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, den Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem, wie eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze in der GKV die Finanzprobleme mildern könne. Damit würden gut Verdienende stärker zur Kasse gebeten. Für diese Personen verstärkte sich allerdings der Anreiz, in die private Versicherung zu wechseln. Um das zu verhindern, müsste auch die Versicherungspflichtgrenze angehoben werden. Das wiederum wäre ein Schritt zur Einheitsversicherung. Keine dieser Maßnahmen steht in dem Gesetzentwurf, sie stehen auch in der Ampelkoalition gar nicht zur Debatte. Klein-Schmeink als Verfechterin der Bürgerversicherung für alle war aber daran gelegen, dieses Ziel der Grünen ins Gedächtnis zu rufen, auch wenn sie ihm in einer Koalition mit der FDP nicht näherkommen kann. Versuche der parteipolitischen Profilierung sind eben im Parlament an der Tagesordnung.

Weshalb die Vorsitzende eine Stoppuhr braucht

Leider hofft, wer eine Bundestagsanhörung verfolgt, vergeblich auf Spontanes oder Überraschendes. So auch diesmal. Auf vorgelesene Fragen folgten mehr oder weniger prägnante Antworten. Keine Expertin, kein Experte wagte es, ausufernd zu antworten. Denn die Vorsitzende Kappert-Gonther hatte zu Beginn das rigorose Zeitkorsett erläutert: 120 Minuten Anhörungszeit bedeuten für die SPD als stärkste Fraktion 34 Minuten Zeitkontingent, für die Union 33, die Grünen 19 Minuten, die FDP 15, die AfD 13 und die Linke 6 Minuten – wohlgemerkt für Fragen und Antworten. Die Ausschussvorsitzende lobte, wenn die Zeit eingehalten wurde.

Im gegenteiligen Fall gab es eine strenge Ermahnung. Sollte dies der Qualitätsmaßstab für eine parlamentarische Beratung sein? Der Höhepunkt war erreicht, als Kappert-Gonther der Linksfraktion – wohl nach einem Blick auf ihre Stoppuhr – eine 20-Sekunden-Gutschrift für die nächste Fragerunde gewährte. Nachfragen bei einer wichtigen Antwort, um einen Punkt zu vertiefen? Rede und Gegenrede von zwei Experten zu einem strittigen Punkt? Fehlanzeige. In einem derart formalisierten Ablauf der Anhörung war das nicht vorgesehen.

Wenn der Geduldsfaden reißt

Von den eingeladenen Sachverständigen verlangt das Verfahren Disziplin und vor allem die Geduld, darauf zu warten, dass sie das Wort erteilt bekommen. Andreas Gassen, dem Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), nur per Video zugeschaltet, ist diesmal der Geduldsfaden gerissen. Das zeigte die geradezu wütende Presseerklärung, die er unmittelbar nach der Anhörung herumschickte. Es seien „teilweise Mikrothemen“ diskutiert worden. „Den regierenden Politikern der Ampelkoalition ist es aber nicht bewusst oder vollkommen egal, dass gerade die Axt an die ambulante Versorgung angelegt wird“, schäumte der Spitzenrepräsentant aller Vertragsärztinnen und Vertragsärzte. Was er nicht schrieb: Als einer der schärfsten Kritiker des Gesetzentwurfs kam Gassen erst nach fast zwei Stunden erstmals überhaupt zu Wort. Und dann mit einer eher belanglosen Frage des ärztlichen Kollegen Janosch Dahmen (Grüne) zur Videosprechstunde.

Eine Spitze gegen den Gesundheitsminister

Die Gegenseite der KBV hatte sich mit Doris Pfeiffer, der Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes, dagegen zuvor schon über den schärfsten Kritikpunkt der Kassenärzte, die sogenannten Neupatientenregelung, äußern dürfen – was Gassen wohl als Provokation empfunden hat. Erst gegen Ende der Anhörung gab die AfD ihm doch noch die Gelegenheit, seine Kritik loszuwerden. Dabei behielt er noch den von den Vorrednern angeschlagenen Kammerton bei. Würden die Kassen die Behandlung neuer Patienten nicht mehr wie seit 2019 außerhalb des Vergütungsbudgets honorieren, „wird es natürlich Leistungskürzungen geben“, sagte Gassen. Das habe das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) der KBV nachgewiesen, „allerdings ist die Studie nicht aus Harvard.“ Eine Spitze gegen den Gesundheitsminister, der vor Jahren in Harvard geforscht hatte.

Karl Lauterbach war nicht im Saal; wie bei Anhörungen üblich, vertrat die Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Dittmar (SPD) den Minister. Ob sie ihrem Chef von dem polemischen Seitenhieb berichtet hat, ist nicht bekannt. Gassen wiederum könnte aus der Erfahrung mit dieser Anhörung für sich die Lehre ziehen, bei der nächsten den kurzen Weg zum Bundestag auf sich zu nehmen und den persönlichen Austausch mit den Abgeordneten zu suchen.

Weitere Informationen über die Anhörung zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz

Autor: Heinz Stüwe

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